AG Königstein, Urteil vom 19. April 2000, 21 C 113/00 (11)

AG Königstein, Urteil vom 19. April 2000, 21 C 113/00 (11)

Beeinträchtigung eines Grundstücks durch Verschattung und Fichtennadeln

Gericht

AG Königstein


Art der Entscheidung

Urteil


Datum

19. 04. 2000


Aktenzeichen

21 C 113/00 (11)


Leitsatz des Gerichts

Die Beseitigung von überhängenden Zweigen kann verlangt werden, auch wenn die Beeinträchtigung nicht erheblich ist.

Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

Die Parteien sind Eigentümer benachbarter Grundstücke. Die Thujenhecke des Bekl. hängt etwa 50 cm, die Zweige einiger Fichten bis zu 3 m in das Grundstück des Kl. hinüber. Der Kl. macht die Beeinträchtigung durch den starken Nadelabfall und vermindertes Wachstum auf dem eigenen Grundstück auf Grund der Verschattung geltend. Er forderte nach Fristsetzung erfolglos die Beseitigung der Überhänge. Mit der Klage fordert er Ersatz der von ihm aufgewandten Beseitigungskosten.

Die Klage hatte Erfolg.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

Der Bekl. hat nicht dargetan, dass der Kl. durch den Überhang in der Nutzung des Grundstückes nicht beeinträchtigt wird. Sofern er meint, herabfallende Fichtennadeln seien eine unerhebliche Beeinträchtigung und daher von § 910 II BGB erfasst, entspricht dies zwar einer bisweilen vertretenen Auffassung (vgl. AG Frankfurt a.M., NJW-RR 1990, 146). Diese Auffassung, die im Übrigen nicht die h.M. darstellen dürfte, ist indessen mit Wortlaut, Geschichte und Systematik des § 910 BGB nicht vereinbar. Dem Wortlaut nach macht § 910 BGB das Selbsthilferecht des Grundstückseigentümers gerade nicht von einer bestimmten Erheblichkeit der Beeinträchtigung abhängig. Das Selbsthilferecht wird nur dann nach § 910 II BGB ausgeschlossen, wenn „die Zweige die Benutzung des Grundstücks nicht beeinträchtigen“. Demnach soll für Erwägungen, wie erheblich die Beeinträchtigung durch den Überhang sein muss, offenkundig gerade kein Raum bleiben. Vielmehr setzt der Wortlaut des § 910 II BGB voraus, dass der Überhang das Grundstück überhaupt nicht beeinträchtigt, eine Belästigung also schlechterdings ausgeschlossen ist. Das ist bei Nadelabwurf jedenfalls dann zu verneinen, wenn er, wie hier unstreitig ist, den Wuchs der eigenen Anpflanzungen des Kl. behindert.

Dieser Wortlaut von § 910 II BGB ist auch nicht unglücklich gewählt und daher von den Gerichten zu korrigieren. Denn er entspricht, wie die Entstehungsgeschichte der Norm zeigt, dem eindeutig geäußerten Willen des Gesetzgebers. Nach den Materialien zum BGB soll die Einrede des Nachbarn aus § 910 II BGB dem Gericht nicht den Weg zu Billigkeitserwägungen über die Erheblichkeit des Überhangs oder gar zu einer allgemeinen Interessenabwägung eröffnen. Der Ausschluss des Selbsthilferechtes soll auf Fälle schikanösen Rechtsmissbrauchs durch den Grundstückseigentümer gegenüber seinem Nachbarn beschränkt bleiben (Mugdan III, 593 u. 973; Prot. III, 141). Diese Möglichkeit scheidet aus, wenn er durch den Überhang überhaupt beeinträchtigt wird. Denn dann kann dessen Beseitigung eben nicht mehr nur dem Zweck dienen, dem Nachbarn Schaden zuzufügen. Vielmehr erzielt der Grundstückseigentümer einen Nutzen für sich, nämlich die Beseitigung einer, wenn auch geringen, Störung. Das Verlangen, eine Beeinträchtigung zu beseitigen, ist aber nicht schon deswegen schikanös und missbräuchlich, weil sie nur von geringem Ausmaß ist.

Diese Auslegung entspricht auch der Systematik des Gesetzes. Denn der erste Titel des 3. Abschnitts von Buch 3 des BGB regelt gerade den „Inhalt des Eigentums“. Danach kann der Eigentümer einer Sache aber, wie § 903 BGB vorausschickt, „andere von jeder Einwirkung ausschließen“. Daraus folgt bei Grundstücken insbesondere, dass er über dessen Bepflanzung und Erscheinungsbild entscheiden darf, nicht der Nachbar. Dass ein Außenstehender „ein Recht hat, Zweige seiner Bäume in den Machtbereich seines Nachbarn eindringen zu lassen, ist jedoch nirgends, insbesondere nicht in § 910 BGB, bestimmt“ (BGHZ 60, 235 [242] = NJW 1973, 703). Vielmehr ist der Eigentumsschutz gerade bei Grundeigentum, dem das Gesetz etwa durch die Formvorschriften bei Veräußerung erkennbar besondere Bedeutung beimisst, nicht niedriger anzusetzen als bei beweglichen Sachen.

Diese klare Regelung in § 910 BGB ist auch durch den Zeitablauf seit Erlass des BGB nicht obsolet geworden. Sofern das OLG Köln die zitierte Entscheidung des BGH „im Lichte der neueren Naturschutzbestimmungen“ ausdrücklich als überholt bezeichnet (NJW-RR 1997, 656 = OLG-Report, 1996, 201), kann dem das hier erkennende Gericht nicht folgen. Es bleibt schon zweifelhaft, inwieweit etwa 50 cm Überhang einer Thuja-Hecke von besonderer ökologischer Bedeutung sein soll. Jedenfalls bestimmen derartige öffentlich-rechtliche Naturschutzbestimmungen zumeist ganz genau, welche Gewächse geschützt sein sollen. Inwieweit sie darüber hinaus ein bestimmtes „Licht“ auf § 910 BGB werfen, das auch naturschutzrechtlich nicht erfasste Gewächse diesem Selbsthilferecht entzieht, vermag das Gericht nicht zu erkennen.

Vielmehr hat die Regelung des § 910 BGB gerade für die heutigen Lebensverhältnisse eine besonders aktuelle Bedeutung. Angesichts der unter Gesichtspunkten des Umweltschutzes erforderlichen intensiveren Ausnutzung von Bauland werden die Gärten bei Neubauten heute üblicherweise knapper bemessen als früher. Gerade angesichts dieses geringer werdenden Platzes, der dem einzelnen Grundstückseigentümer zur Verfügung steht, hat er ein berechtigtes Interesse, wenigstens diese Fläche dann nach seinen Vorstellungen nutzen zu können. Will er dann einen Ziergarten anlegen, kann ihm dieser Wunsch nicht mit Billigung der Gerichte durch den Überhang des Nachbarn verwehrt werden. Vor diesem Hintergrund erscheint die Regelung des § 910 BGB auch heute rechtspolitisch angemessen. Im Übrigen stellt Überhang in aller Regel eine je nach Standpunkt unterschiedlich empfundene Belästigung dar, die den ökonomischen Wert des Grundstückes in aller Regel unberührt lässt. Wollte man hier die Ausübung der Selbsthilfe an eine objektiv qualifizierte Beeinträchtigung knüpfen, müsste man sie durchweg versagen. Das würde aber den Inhalt des Gesetzes auf den Kopf stellen, wonach der Beseitigungsanspruch die Regel, die Duldungspflicht nach § 910 II BGB aber die Ausnahme darstellt. Im Übrigen würde diese Auffassung zu einer beträchtlichen Rechtsunsicherheit führen, da es praktisch immer einer subjektiven Wertung unterworfen wäre, ob der Überhang zu einer erheblichen Beeinträchtigung führt.

Nach alledem kann kein Zweifel bestehen, dass der Nadelabwurf, der die eigenen Anpflanzungen des Kl. beeinträchtigte, eine nach § 910 BGB relevante Beeinträchtigung darstellt (vgl. auch RGRK, BGB, 12. Aufl. [1979], § 910 Rdnr. 2; Staudinger, 13. Aufl. [1996], § 910 Rdnr. 20; Palandt/Bassenge, 58. Aufl. [1999], § 910 Rdnr. 3).

Dies ist unabhängig davon, in welcher Höhe sich die abgeschnittenen Zweige befanden. Denn eine derartige Beschränkung auf Zweige bis zu einer bestimmten Höhe übernahm das BGB ganz bewusst nicht aus dem Gemeinen Recht (Mugdan III, 159, Prot. III, 143; dazu Staudinger, 12. Aufl. [1996], § 910 Rdnr. 12). Auf die Frage, ob der Überhang darüber hinaus noch das Küchenfenster des Kl. verschattete, kam es demnach nicht mehr an. Da der Kl. die Beseitigung des Überhangs nach der Weigerung des Bekl. selbst vornahm, hat er auch einen Anspruch auf Erstattung der hierfür erforderlichen Kosten aus § 812 I 1 2. Fall i.V. mit § 818 II BGB. Denn er befreite den Bekl. von einer ihn treffenden Verpflichtung, so dass dieser für die insoweit eingetretene Bereicherung Wertersatz zu leisten hat (BGHZ 60, 235 [243]; BGHZ 97, 231 = NJW 1986, 2640 [2641]; RGRK-BGB, § 910 Rdnr. 6; Staudinger, 13. Aufl. [1996], § 910 Rdnrn. 3 und 27; Palandt/Bassenge, § 910 Rdnr. 4).

Rechtsgebiete

Nachbarrecht; Garten- und Nachbarrecht