BAG, Revisionsurteil vom 19. Januar 1999, 9 AZR 204/98

BAG, Revisionsurteil vom 19. Januar 1999, 9 AZR 204/98

Urlaubsgeld während Erziehungsurlaub

Gericht

BAG


Art der Entscheidung

Revisionsurteil


Datum

19. 01. 1999


Aktenzeichen

9 AZR 204/98


Leitsatz des Gerichts

Der Anspruch auf das tarifliche Urlaubsgeld besteht nach dem TV Sonderzahlung auch dann, wenn die Arbeitnehmerin im gesamten Kalenderjahr Erziehungsurlaub in Anspruch genommen hat (Bestätigung und Fortführung BAG, NZA 1995, 232 = AP Nr. 50 zu § 1 TVG Tarifverträge: Einzelhandel).

Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

Die Kl. begehrt von der Bekl. Rückzahlung von tariflichem Urlaubsgeld. Die Bekl. ist als Arbeitnehmerin einer Verkaufsfiliale der Kl. beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien sind kraft beiderseitiger Organisationszugehörigkeit die Tarifverträge des hessischen Einzelhandels anzuwenden. 1995und 1996 befand sich die Bekl. im Erziehungsurlaub. Auf ihre schriftliche Mahnung im Dezember 1996 zahlte die Kl. der Bekl. Urlaubsgeld und Sonderzuwendung für 1995 und 1996. In dem allgemeinverbindlichen „Tarifvertrag über Sonderzahlung (Urlaubsgeld und Sonderzuwendung)” in der Fassung vom 16./17. 6. 1993und in der Fassung vom 24./25. 9. 1996 (TV Sonderzahlung) ist unter anderem folgendes geregelt:

§ 2. Arbeitnehmer/innen, Auszubildende und diesen Gleichzustellende haben Anspruch auf eine tarifliche Sonderzahlung, die aus 2 Teilbeträgen (Urlaubsgeld und Sonderzuwendung) zusammensetzt.

§ 3. Urlaubsgeld.

(1) Höhe und Anspruch

a) Das Urlaubsgeld beträgt 50%, ab 1. 1. 1996 55% des Endgehalts der Gehaltsgruppe B Ia) (Verkäufer/in) des Gehaltstarifvertrags des Einzelhandels in Hessen, der am 1. Januar des jeweiligen Kalenderjahrs gilt.

b) Arbeitsnehmer/innen, Auszubildende und diesen Gleichzustellende, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, erhalten 50% des Urlaubsgelds nach Buchst. a . .

e) Teilzeitbeschäftigte erhalten anteiliges Urlaubsgeld im Verhältnis ihrer tatsächlichen Arbeitszeit zur tariflichen Wochenarbeitszeit.

(2) Berechnung und Rückzahlung des Urlaubsgelds

a) Im Urlaubsjahr eintretende und ausscheidende Anspruchsberechtigte haben Anspruch auf soviel Zwölftel des Urlaubsgelds, wie sie im laufenden Urlaubsjahr volle Kalendermonate im Betrieb bzw. Unternehmen tätig sind. Zuviel gezahltes Urlaubsgeld ist als Gehalts-, Lohn- bzw. Vergütungsvorschuß zurückzuzahlen. Bei Aufrechnung gegen Gehalts-, Lohn- oder Vergütungsansprüche sind die Lohnpfändungsvorschriften zu beachten.

b) Eine Verpflichtung zur Rückzahlung entfällt, wenn das Arbeitsverhältnis wegen Erreichung der Altersgrenze, Krankheit oder Tod des Anspruchsberechtigten oder durch Kündigung seitens des Arbeitgebers wegen innerbetrieblicher Rationalisierung endet. Von der Rückzahlungspflicht sind ferner Anspruchsberechtigte befreit, deren Betriebszugehörigkeit zum Zeitpunkt der Auszahlung des Urlaubsgelds mehr als fünf Jahre gedauert hat oder Arbeitnehmerinnen, die von § 10 I des Mutterschutzgesetzes Gebrauch machen . .

d) Wird das Arbeitsverhältnis aufgrund treuwidrigen Verhaltens (Diebstahl, Unterschlagung, Untreue oder sonstiges strafbares Verhalten im Arbeitsverhältnis) beendet, so entfällt der Anspruch auf Zahlung des tariflichen Urlaubsgelds. Gegebenenfalls für das laufende Kalenderjahr bereits erhaltenes Urlaubsgeld ist als Vorschuß zurückzuzahlen.

(3) Fälligkeit

a) Das Urlaubsgeld ist auf Verlangen des Anspruchsberechtigten vor Antritt des Urlaubs, spätestens jedoch zum 30. Juni, auszuzahlen . .

In dem allgemeinverbindlichen Manteltarifvertrag des Hessischen Einzelhandels (MTV) vom 24. 9. 1996 heißt es unter anderem:

§ 13. Urlaub . . .

15. Die Arbeitnehmer/innen erhalten ein Urlaubsgeld nach dem gesondert abgeschlossenen Tarifvertrag über Sonderzahlung.

Das ArbG hat der Klage stattgegeben. Das LAG hat sie abgewiesen. Die Revision der Kl. hatte keinen Erfolg.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

Die Bekl. ist nicht verpflichtet, die von der Kl. als Urlaubsgeld 1995 und 1996 geleisteten Beträge nach den Vorschriften der ungerechtfertigten Bereicherung herauszugeben, weil die Zahlung nicht ohne Rechtsgrund erfolgt ist. Das hat das LAG zutreffend erkannt.

1. Die Bekl. hatte Anspruch auf das von der Kl. gezahlte Urlaubsgeld auch für die Jahre des Erziehungsurlaubs. Das ergibt sich aus § 2 i.V. mit § 3 TV Sonderzahlung.

a) Nach § 2 TV Sonderzahlung „haben” Arbeitnehmer „Anspruch auf eine tarifliche Sonderzahlung”. Voraussetzung für den Anspruch auf den Teilbetrag „Urlaubsgeld” ist nach dieser Vorschrift allein die Stellung des Anspruchsberechtigten als Arbeitnehmer. Die Bekl. war 1995 und 1996 Arbeitnehmerin der Kl. Der Erziehungsurlaub der Kl. hat daran nichts geändert.

b) Für das Entstehen des Anspruchs auf Urlaubsgeld lassen sich § 3 TV Sonderzahlung andere Voraussetzungen nicht entnehmen. Der Anspruch ist nicht davon abhängig, daß dem Arbeitnehmer tatsächlich Urlaub gewährt worden ist oder gewährt werden konnte. Er ist auch nicht an das Entstehen oder das Erlöschen eines Anspruchs auf Urlaubsgewährung im Sinne eines Anspruchs auf Freistellung von der Arbeitspflicht gebunden.

a) Nach § 3 Nr. 1 TV Sonderzahlung, der entsprechend seiner Überschrift „Höhe und Anspruch” regelt, ist der Anspruchsumfang nach dem Alter des Beschäftigten und bei einer Teilzeitbeschäftigung im Verhältnis der tatsächlichen Arbeitszeit zur tariflichen Wochenarbeitszeit bestimmt. Bezugsgröße für das nach § 3 Nr. 1 lit. b, c und e TV Sonderzahlung anteilige Urlaubsgeld ist jeweils das in § 3 Nr. 1 lit. TV Sonderzahlung bestimmte Entgelt, nämlich das Endgehalt der Gehaltsgruppe B Im (Verkäufer/in). Die Tarifvertragsparteien haben damit das Urlaubsgeld als Festbetrag vereinbart und nicht das während des Urlaubs zu zahlende Urlaubsentgelt prozentual aufgestockt, wie es für einen akzessorischen Urlaubsgeldanspruch typisch wäre (BAGE 71, 50 = NZA 1994, 27 = AP Nr. 3 zu § 17 BErzGG).

bb) Aus der Regelung für Teilzeitbeschäftigte (§ 3 Nr. 1 lit. e TV Sonderzahlung) ergibt sich kein Ausschluß der Arbeitnehmer im Erziehungsurlaub. Sie betrifft nur die Berechnung des Urlaubsgelds entsprechend der tatsächlich vereinbarten Arbeitszeit im Verhältnis zur regelmäßigen tariflichen Wochenarbeitszeit. Erziehungsurlaub führt demgegenüber zwar zur Suspendierung der beiderseitigen Hauptpflichten – Arbeits- und Vergütungspflicht -, läßt aber die vereinbarten Arbeitsbedingungen als Vollzeit- oder Teilzeitkraft unberührt. Erziehungsurlaub steht der Teilzeitarbeit nicht gleich.

cc) Die Bestimmungen in § 3 Nr. 2 TV Sonderzahlung führen zu keinem anderen Ergebnis. Die Vorschrift betrifft ausschließlich den Anspruch auf Urlaubsgeld der Anspruchsberechtigten, die im laufenden Urlaubsjahr „eintreten oder ausscheiden”, also Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnis im Urlaubsjahr beginnt oder endet. Diese haben, wie in § 3 Nr. 2 lit. a TV Sonderzahlung festgelegt ist, Anspruch auf Urlaubsgeld von je 2 nur für die vollen Kalendermonate, in denen sie tätig gewesen sind. „Zuviel” gezahltes Urlaubsgeld ist je nach Dauer des Arbeitsverhältnisses und dem Grund der Beendigung des Arbeitsverhältnisses zurückzuzahlen. Zu diesem Arbeitnehmerkreis gehören Arbeitnehmer im Erziehungsurlaub nicht. Ihr Arbeitsverhältnis endet nicht. Deshalb kommt es auf die tariflich vorgesehenen Ausnahmen von der Rückzahlungspflicht nicht an. Es mag sein, dass die „Befreiung” des Arbeitnehmers von der Rückzahlungspflicht aufgrund langjähriger Tätigkeit für den Arbeitgeber oder die Beendigung des Arbeitsverhältnisses aufgrund der Sondervorschrift von § 10 MuSchG darauf hindeuten, die Tarifvertragsparteien berücksichtigten damit sogenannte Härtefälle und belohnten durch die Abkoppelung des Anspruchs auf Urlaubsgeld von der Dauer des Arbeitsverhältnisses erwiesene Betriebstreue. Aus diesen tariflichen Bestimmungen, wann vom Zwölftelprinzip abzusehen ist, läßt sich aber weiteres nicht herleiten. Das Urteil des Senats vom 6. 9. 1994 (BAG, NZA 1995, 232 = AP Nr. 50 zu § 1 TVG Tarifverträge: Einzelhandel) ist nicht dahin zu verstehen, es sei jeweils im Einzelfall festzustellen, ob es sich bei der tariflichen Leistung um eine „Gratifikation” oder um ein „Urlaubsgeld” handelt.

d) Die Revision weist zwar zutreffend darauf hin, dass in § 3 Nr. 3 lit. a erster HS. TV Sonderzahlung bestimmt ist, auf Wunsch des Arbeitnehmers sei das Urlaubsgeld „vor Urlaubsantritt” zu zahlen. Damit haben die Tarifvertragsparteien zwar zwischen Urlaubsgewährung und Urlaubsgeld einen Zusammenhang hergestellt. Mit dem folgenden Halbsatz haben sie aber die Fälligkeit des Anspruchs (§ 271 BGB) vom Urlaubsantritt gelöst und den 30. Juni als „spätesten” Auszahlungstermin festgelegt. Der Arbeitgeber schuldet mithin allen Anspruchsberechtigten, die bis zu diesem Stichtag kein Urlaubsgeld erhalten haben, die Auszahlung. Die Tarifvorschrift bietet keinen Anhalt, Arbeitnehmer im Erziehungsurlaub hiervon auszuschließen. Der Einwand der Revision, aus diesem Fälligkeitstermin ergebe sich eine Bindung des Urlaubsgelds an den Urlaub, weil die Mehrheit der Arbeitnehmer in den Sommermonaten Urlaub mache und das Urlaubsgeld dazu beitragen solle, die erhöhten Urlaubsaufwendungen abzudecken, greift nicht. Ein Urlaubsgeld kann zwar dazu bestimmt sein, die mit einem Urlaub regelmäßig verbundenen höheren Kosten des Arbeitnehmers auszugleichen (BAG, NZA 1997, 160 = AP Nr. 7 zu § 17 BErzGG). Wie auch die Revision nicht verkennt, hat der Arbeitgeber jedoch keinen Einfluß auf die tatsächliche Verwendung des Urlaubsgelds. Diese richtet sich nach den jeweiligen Bedürfnissen des Arbeitnehmers, der das ihm gezahlte Urlaubsgeld beliebig einsetzen kann. Soweit das Urlaubsgeld nach der Vorstellung der Tarifvertragsparteien zweckbestimmt erhöhte Urlaubsaufwendungen des Arbeitnehmers abdecken soll, muß diese Bindung an die tatsächliche Urlaubsgewährung deshalb im Tarifvertrag deutlich werden. Eine Fälligkeitsbestimmung, die – wie hier – an einen Stichtag und nicht an die tatsächliche Urlaubsgewährung anknüpft, genügt hierfür nicht.

2. Aus § 13 Nr. 15 MTV ergibt sich entgegen der Revision nichts anderes. Dort wird nur allgemein bestimmt, daß Arbeitnehmer ein Urlaubsgeld nach dem gesondert abgeschlossenen Tarifvertrag über Sonderzahlung erhalten. Diese Verweisung ist umfassend und betrifft sämtliche Regelungsfragen, die mit dem Anspruch auf die Sonderleistung zusammenhängen. Das betrifft sowohl die Anspruchsvoraussetzungen wie auch die sich daraus ergebenden Rechtsfolgen.

3. Der Anspruch der Bekl. ist auch nicht aus einem anderen Grund ausgeschlossen.

a) Die Revision meint zu Unrecht, nach allgemeinen Grundsätzen bestehe zwingend ein Zusammenhang zwischen dem Anspruch auf Urlaubsgeld und dem Urlaubsanspruch. Es steht den Tarifvertragsparteien frei, ohne Rücksicht auf den Bestand von Arbeitspflichten oder von Urlaubsansprüchen eine als „Urlaubsgeld” bezeichnete Sonderzahlung zu vereinbaren (BAG, NZA 1995, 232 = AP Nr. 50 zu § 1 TVG Tarifverträge: Einzelhandel; BAGE 85,306 = NZA 1997, 1168 = AP Nr. 8 zu § 17 BErzGG). Ein von den Tarifvertragsparteien verfolgter Zweck ist für die Auslegung des Tarifvertrags nur von Bedeutung, wenn er sich aus den im Tarifvertrag festgelegten Anspruchsvoraussetzungen und den tariflich vereinbarten Ausschluß- oder Kürzungstatbeständen herleiten läßt. Ohne einen derartigen Anhalt im Tarifvertrag kann nicht aufgrund eines vermeintlichen Regel-/Ausnahmeverhältnisses angenommen werden, der Anspruch auf Urlaubsgeld setze grundsätzlich das Bestehen eines Urlaubsanspruchs oder dessen Erfüllbarkeit voraus. Welche Voraussetzungen vorliegen müssen, um den Anspruch auf Urlaubsgeld entstehen oder erlöschen zu lassen, bestimmt sich vielmehr nach dem Inhalt der tariflichen Regelung.

Mit dieser Entscheidung setzt sich der Senat nicht in Widerspruch zu der von der Revision zitierten Entscheidung des 10. Senats vom 14. 8. 1996 (BAG, NZA 1996, 1204 = AP Nr. 19 zu § BErzGG). Dieser Rechtsstreit betraf keinen tariflichen Anspruch auf Urlaubsgeld. Vielmehr hatte der 10. Senat eine einzelvertragliche Vereinbarung über Urlaubsgeld auszulegen. Aus der Verwendung des Begriffs „Urlaubsgeld” hat der 10. Senat für diesen Individualvertraggeschlossen, der mit dieser Bezeichnung verbundene Zweck schließe den Anspruch aus, wenn sich der Arbeitnehmer ganzjährig im Erziehungsurlaub befinde. Die für die Auslegung von arbeitsvertraglichen Vereinbarungen über ein Urlaubsgeld aufgestellten Grundsätze sind auf einen tariflichen Anspruch jedoch nicht anzuwenden (BAG, Urt. v. 18. 11. 1998 – 10 AZR 649/97 unveröff.; BAGE 85, 306 = NZA 1997, 1168 = AP Nr. 8 zu § 17 BErzGG).

b) Entgegen der Auffassung der Revision ist auch der Umstand, daß ein Arbeitsverhältnis während des Erziehungsurlaubs ruht, ohne Bedeutung. Zwar bewirkt das sogenannte Ruhen des Arbeitsverhältnisses den Wegfall der arbeitsvertraglich geschuldeten Hauptpflichten. Betroffen sind die wechselseitigen Leistungen, die nach § 611 BGB im Austauschverhältnis „Leistung und Gegenleistung” stehen. Nicht jede finanzielle Leistung des Arbeitgebers ist jedoch diesem Austauschverhältnis zuzuordnen. Ob Ansprüche auf Leistungen auch während des ruhenden Arbeitsverhältnisses bestehen, bestimmt sich vielmehr nach den jeweils vereinbarten Bedingungen.

Vorinstanzen

LAG Hessen, 11 Sa 1828/97, 12.1.1998

Rechtsgebiete

Arbeitsrecht

Normen

TV über Sonderzahlung (Urlaubsgeld und Sonderzuwendung) für die Arbeitnehmer/innen im Hessischen Einzelhandel i.d.F. vom 16./17. 6. 1993 und i.d.F. vom 24./25. 9. 1996 §§ 2, 3