OLG Celle, Berufungsurteil vom 23. Juli 2003, 9 U 42/03

OLG Celle, Berufungsurteil vom 23. Juli 2003, 9 U 42/03

Beweis bei Glatteis

Gericht

OLG Celle


Art der Entscheidung

Berufungsurteil


Datum

23. 07. 2003


Aktenzeichen

9 U 42/03


Leitsatz des Gerichts

  1. Ein Glatteisunfall (innerhalb der zeitlichen Grenzen der Streupflicht) indiziert, dass die Streupflicht verletzt wurde.

  2. Ergibt die Beweisaufnahme, dass früh morgens ausreichend geräumt und gestreut wurde, indiziert ein Glatteisunfall nicht mehr, dass die Nachstreupflicht verletzt wurde. Insoweit wird auch kein Anscheinsbeweis begründet.

Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

Die 1935 geborene Kl. begehrt Ersatz materiellen und immateriellen Schadens wegen eines Glatteisunfalls, den sie am 17. 2. 1999 um 10.30 Uhr in der Innenstadt von C. als Passantin auf dem Bürgersteig vor dem Grundstück der Bekl. zu 1 erlitten hat; die Bekl. zu 2 hat das Grundstück zum Betrieb ihrer Bankfiliale gemietet und den Auftrag zur Gehwegreinigung an ein gewerbliches Unternehmen vergeben. Die Kl. erlitt bei dem Sturz einen dreifachen Schienbeinbruch sowie einen Trümmerbruch im Fersen- und Knöchelbereich.

Das LG hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Kl. hatte keinen Erfolg.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

Die Berufung ist nicht begründet, weil das LG im Ergebnis zutreffend die Verletzung einer Räum- und Streupflicht verneint hat; die Kl. hat die Voraussetzungen der Verletzung einer deliktischen Pflicht nicht bewiesen. Es kommt deshalb nicht mehr darauf an, dass die Kl. mit ihrem Schmerzensgeldbegehren in der Größenordnung von 7500 Euro auch der Höhe nach keinen Erfolg hätte haben können.

1. Die Kl. ist glatteisbedingt auf dem öffentlichen Bürgersteig gestürzt. Eine Haftung der bekl. Grundstücksanliegerin und der Grundstücksmieterin ergibt sich allenfalls aus § 823 II BGB i.V. mit § 3 I 2 der Straßenreinigungssatzung der Stadt CuxhavenStraßenreinigungssatzung der Stadt Cuxhaven vom 28. 11. 1985 und § 3 II der StraßenreinigungsVOStraßenreinigungsVO der Stadt Cuxhaven vom 8. 12. 1971, nicht aber aus § 823 I BGB (näher dazu Senat, VersR 1998, 604). Der nach § 293 ZPO erforderliche und erst in zweiter Instanz erfolgte Sachvortrag zur städtischen Straßenreinigungssatzung ist als rechtzeitig zuzulassen, weil die Parteien, die erkennbar von einer unrichtigen Anspruchsgrundlage ausgegangen sind, bereits vom LG auf diese Fehlbeurteilung hätten hingewiesen werden müssen. Ob der Sachvortrag zur Delegation der Räum- und Streupflicht von der Grundstückseigentümerin auf die Mieterin für eine Haftbarmachung der Bekl. zu 2 ausreicht und ob wegen deren Delegation der Aufgaben auf einen gewerblichen Räumdienst eine Verletzung bloßer Kontrollpflichten festzustellen ist, bedarf keiner Entscheidung, weil der Senat eine Verletzung der primären Streupflicht verneint.

2. Für eine Streupflichtverletzung spricht entgegen der Auffassung der Kl. kein Anscheinsbeweis. Ein Anscheinsbeweis ist nur hinsichtlich der Kausalität einer feststehenden Pflichtverletzung für einen Glatteisunfall gegeben (ebenso OLG Hamm, ZfS 2000, 97; BGH, NJW 1984, 432 [433] = VersR 1984, 40, hat sich nur mit dieser Problemstellung befasst). Allerdings geht der Senat in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass ein Glatteisunfall, der sich innerhalb der zeitlichen Grenzen der Streupflicht ereignet hat, grundsätzlich die Verletzung einer deliktischen Streupflicht indiziert (vgl. z.B. BGH, NZV 2001, 78). Die erstinstanzlich durchgeführte Beweisaufnahme hat jedoch ergeben, dass frühmorgens am Unfalltag ausreichend geräumt und gestreut worden ist und die indizielle Wirkung des Unfalls daher aufgehoben ist.

Das angefochtene Urteil geht in nicht zu beanstandender Beweiswürdigung, der die Kl. nur einen abweichenden Inhalt geben will, ohne Beweiswürdigungsfehler aufzuzeigen, davon aus, dass der von der Bekl. zu 2 beauftragte gewerbliche Streudienst den Gehweg mit einem Fahrzeug geräumt und mit Salz abgestreut hat und dass es danach bis zum Unfallzeitpunkt weitere Niederschläge gegeben hat. Der Zeuge N war kein Zeuge vom Hörensagen, wie die Kl. meint; vielmehr hat er eine Schlussfolgerung auf Grund seiner eigenen Beobachtung des Wegezustands beim späteren zweiten, von ihm selbst nach dem Unfall vorgenommenen Abstreuen wiedergegeben und sich zusätzlich auf schriftliche Dokumente seines Unternehmens gestützt.

3.a) Auch bei anfänglicher Erfüllung der Streupflicht kann es geboten sein, während der in der Straßenreinigungssatzung tageszeitlich festgelegten Dauer der Streupflicht bei Veränderung der Gefahrenlage nachzustreuen. Die Ausgestaltung dieser Pflicht, insbesondere die Bestimmung des Zeitpunkts eines etwaigen Nachstreuens, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab, etwa dem Nachlassen der abstumpfenden Wirkung des Streuguts und der Entwicklung der Wetterlage. Der Senat misst deshalb dem Glätteunfall keine Indizwirkung für eine Verletzung der Nachstreupflicht bei. Gegen ein solches Indiz spricht auch die Erwägung des LG, dass selbst bei ausreichendem Streuen, das hier sogar maschinell erfolgt ist, kein absolut eisfreier Bürgersteig erwartet werden darf und daher ein Sturz, der sich gleichwohl ereignet hat, keinen Schluss auf die Notwendigkeit des Nachstreuens zulässt.

b) Im Streitfall geht es um die Verteilung der Darlegungs- und Beweislast für den Beginn einer Nachstreupflicht wegen Beendigung des vormittäglichen Schneefalls, der als solcher durch das Wetterdienstgutachten und die Aussage des Zeugen N bewiesen ist. Während der am Vormittag anhaltenden leichten Niederschläge musste nicht erneut geräumt und gestreut werden. Ob noch vor dem Unfall der Kl. ein erneutes Streuen geboten war, hängt von der Feststellung ab, ob und gegebenenfalls wann der Niederschlag beendet war und bis wann Nachstreuen wegen anhaltenden Schneefalls zwecklos war. Die Reaktion des Streupflichtigen muss dann unter Berücksichtigung von Zumutbarkeitsgesichtspunkten nicht sofort, wohl aber in angemessenem zeitlichen Abstand erfolgen. Zu den die Nachstreupflicht auslösenden Umständen hat die Kl. nichts Konkretes vorgetragen, obwohl sie dafür grundsätzlich darlegungs- und beweispflichtig ist. Der Geschädigte muss sich zumindest um Informationen für seinen Sachvortrag bemühen, auf dessen Grundlage beurteilt werden kann, wann eine Nachstreupflicht frühestens einzusetzen hatte. Offen bleibt, ob dem Geschädigten Darlegungserleichterungen zu gewähren sind, wenn zumutbare Recherchen erfolglos bleiben; dagegen könnte sprechen, dass der Streupflichtige nicht schlechthin einen leichteren Informationszugang hat, wenn man ihm nicht eine die Witterungslage begleitende Befundsicherungspflicht auferlegen will, die im Detail über die von Wetterdiensten vorgenommenen Aufzeichnungen hinausgeht. Im Streitfall kann die Kl. Darlegungserleichterungen schon deshalb nicht in Anspruch nehmen, weil sie unweit der Unfallstelle wohnt und deshalb ebenso gut wie der Streupflichtige wissen konnte, wann die Schneefälle am Vormittag des Unfalltags beendet waren.

Aus dem bereits erfolgten Nachstreuen von anderen Geschäftsgrundstücken, das die Kl. behauptet hat, kann ohne Kenntnis der erwähnten Umstände nicht der Schluss gezogen werden, dass das erneute Streuen bereits rechtlich geboten war.

Rechtsgebiete

Allgemeines Zivilrecht; Schnee und Glatteis

Normen

BGB § 823 II