OLG Karlsruhe, Berufungsurteil vom 11. Juli 1997, 2 UF 70/96

OLG Karlsruhe, Berufungsurteil vom 11. Juli 1997, 2 UF 70/96

Grobe Unbilligkeit zeitlich unbegrenzten Geschiedenenunterhalts wegen Krankheit

Gericht

OLG Karlsruhe


Art der Entscheidung

Berufungsurteil


Datum

11. 07. 1997


Aktenzeichen

2 UF 70/96


Leitsatz des Gerichts

  1. Auch ein Unterhaltsanspruch wegen Krankheit (§ 1572 BGB) kann gem. § 1579 Nr. 7 BGB zeitlich begrenzt werden und anschließend – trotz weiterbestehender Krankheit (hier: multiple Sklerose) – entfallen.

  2. Ein derartiger Unterhaltswegfall kommt dann in Betracht, wenn die kranke Berechtigte durch die Heirat und den Verlauf der Ehe weder gesundheitliche noch berufliche oder versorgungsrechtliche Nachteile erlitten hat, die kinderlos gebliebene Ehe bis zur Zustellung des Scheidungsantrages nur rund zehn Jahre gedauert hat und der inzwischen selbständig tätige, erneut verheiratete Unterhaltsschuldner wegen Geschäftsrückgangs nur eingeschränkt bzw. vorübergehend gar nicht leistungsfähig ist.

Tatbestand


Auszüge aus dem Sachverhalt:

Der am 31. 1. 1955 geborene Kl. und die am 26. 4. 1957 geborene Bekl. schlossen am 11. 7. 1975 die Ehe. Im Februar 1985 kam es zur Trennung der Parteien, im Juli 1985 wurde der Bekl. der Scheidungsantrag des Kl. zugestellt, im September 1986 wurde die kinderlose Ehe der Parteien geschieden. Im Zeitpunkt der Trennung war der Kl. als Elektroniker beschäftigt; bei Eintritt der Rechtskraft der Scheidung im November 1986 war er arbeitslos und durchlief eine Ausbildung als Technik-Informatiker. Im Februar 1987 heiratete er erneut und war in der Folgezeit als Layouter und als Technik-Informatiker tätig. Das zuletzt bei der Firma F bestehende Arbeitsverhältnis endete zum 31. 12. 1993. Im Jahr 1994 bezog der Kl. Arbeitslosengeld, im Januar und Februar 1995 Arbeitslosenhilfe, seit 1. 3. 1995 ist er selbständig tätig und betreibt – seit September 1995 zusammen mit seiner zweiten Ehefrau – ein Gewerbe, dessen Gegenstand u.a. der Verkauf von Computern ist. Die Bekl. war bereits vor der Eheschließung an multipler Sklerose erkrankt; seit 1. 5. 1985 bezieht sie Erwerbsunfähigkeitsrente. Im vorliegenden Verfahren strebt der Kl. den Wegfall seiner durch Urteil des AG H. vom 18. 11. 1988 in Höhe von 651 DM monatlich titulierten Unterhaltsverpflichtung ab März 1995 an. Zur Begründung hat er angeführt: Die Bekl. habe ihren Unterhaltsanspruch verwirkt, weil sie ihm ihre schwere Krankheit vor der Heirat verschwiegen habe. Auch sei er nicht leistungsfähig; die im Gewerbebetrieb erwirtschafteten Gewinne seien gering und stünden hälftig seiner Ehefrau zu.

Der AG hat der Abänderungsklage teilweise stattgegeben. Die Berufung des Kl. hatte Erfolg.

Entscheidungsgründe


Auszüge aus den Gründen:

I. 1. Nachdem die Bekl. bereits im Zeitpunkt der Scheidung erwerbsunfähig krank war und ihren vollen – nach den ehelichen Lebensverhältnissen bemessenen – Unterhaltsbedarf aus der ihr zufließenden Erwerbsunfähigkeitsrente unstreitig zu keinem Zeitpunkt decken konnte, hat das AG H. ihr zu Recht einen zunächst zeitlich unbefristeten Anspruch auf nachehelichen Unterhalt wegen Krankheit gem. § 1572 BGB zugebilligt.

2. Dieser Anspruch steht der Bekl. aber nicht auf unbegrenzte Dauer zu, sondern ist im vorliegenden Fall auf den Zeitraum bis (längstens) zum 31. 12. 1995 zu begrenzen, weil eine zeitlich darüber hinausgehende Inanspruchnahme des Kl. für diesen unzumutbar und damit grob unbillig i.S. von § 1579 Nr. 7 BGB wäre.

a) Entgegen der vom AG im angegriffenen Urteil geäußerten Auffassung kann der Unterhaltsanspruch der Bekl. zeitlich begrenzt werden, obwohl es sich um einen solchen auf Zahlung von Krankheitsunterhalt handelt. Denn § 1579 BGB sieht die Möglichkeit einer zeitlichen Befristung ausnahmslos für alle Unterhaltstatbestände vor und ist auch auf den Anspruch gem. § 1572 BGB anwendbar (BGH, NJW-RR 1988, 834 (835)).

b) Vorliegend rechtfertigt die Anwendung von § 1579 Nr. 7 BGB die zeitliche Begrenzung des Anspruchs. Eine Abwägung der Belange der Bekl. einerseits und des mit den Unterhaltszahlungen belasteten Kl. andererseits ergibt, dass dem Kl. die Zahlung von Unterhalt bis (längstens) Ende 1995 zwar grundsätzlich zumutbar war. Eine zeitlich darüber hinausgehende Verpflichtung zur Zahlung von Unterhalt wäre aber als grob unbillige Belastung anzusehen (vgl. BGH, NJW-RR 1988, 834 (835)).

c) Hierbei berücksichtigt der Senat, dass durchaus gewichtige Gründe für eine zeitlich unbegrenzte oder zumindest über den 31. 12. 1995 hinausgehende Zubilligung von Unterhalt sprechen. Zunächst fällt ins Gewicht, dass jede Ehe als Lebens- und Schicksalsgemeinschaft anzusehen ist, was dazu führt, dass – trotz des nach Ehescheidung geltenden Grundsatzes der wirtschaftlichen Eigenverantwortlichkeit – das Schicksal eines schon in der Ehezeit in Not geratenen Partners von dem anderen grundsätzlich auch nach der Scheidung mitgetragen werden muss. Des weiteren ist zu berücksichtigen, dass die Bekl. die Unterhaltszahlungen dringend benötigt, um einen angemessenen, über dem Sozialhilfeniveau liegenden Lebensstandard finanzieren zu können, denn die ihr zufließende Erwerbsunfähigkeitsrente von monatlich ca. 850 DM reicht hierfür nicht aus. Kommen die Unterhaltszahlungen in Wegfall, wird die Bekl. ergänzende Sozialhilfe in Anspruch nehmen müssen und damit einen das Sozialhilfeniveau übersteigenden Lebensstandard nicht mehr erreichen können.

d) Andererseits spricht für eine zeitliche Begrenzung der Unterhaltsverpflichtung, dass dem Kl. im Zeitpunkt der Heirat Art und Schwere der Erkrankung der Bekl. unstreitig nicht bekannt waren und er den bereits bestehenden und zutage getretenen Krankheitsanzeichen, möglicherweise aufgrund seines damaligen eigenen geringen Alters, in Verkennung ihrer Tragweite keinerlei Beachtung geschenkt hat. Auch ist zu berücksichtigen, dass die Bekl. durch die Heirat und den Verlauf der Ehe weder gesundheitliche, noch berufliche, noch versorgungsrechtliche Nachteile erlitten hat, im Gegenteil sich die Erwerbsunfähigkeitsrente nach der Scheidung aufgrund der Durchführung des Versorgungsausgleichs um ca. 140 DM monatlich erhöht hat.

Von Bedeutung bei der Gesamtabwägung erscheint auch, dass die Ehe insgesamt bis zur Zustellung des Scheidungsantrags nur ca. zehn Jahre lang gedauert hat und ferner, dass die Bekl. von der Tatsache, dass das Einkommen des Kl. ihr Einkommen immer überstiegen hat, nicht nur in der Ehezeit, sondern auch danach (aufgrund der von ihm geleisteten Unterhaltszahlungen) bereits jahrelang profitiert hat. Auch kann nicht übersehen werden, dass der Kl., bei Verweigerung einer zeitlichen Befristung, voraussichtlich für die erst 40 Jahre alte Bekl. – auch unter Berücksichtigung ihres Krankheitsbildes – noch jahrelang Unterhalt zahlen müsste. Ferner fällt ins Gewicht, dass der Kl. selbst nur über sehr bescheidene Einkünfte verfügt (siehe unten 3. b) und eine nachhaltige Besserung seiner wirtschaftlichen Situation in naher Zukunft nicht zu erwarten ist, er inzwischen vielmehr allen Risiken selbständiger Tätigkeit ausgesetzt ist. Aufgrund seiner schlechten Einkommensverhältnisse ist er seit dem 1. 3. 1995 weder in der Lage, seinen eigenen angemessenen Unterhalt zu bestreiten, noch für sein Alter und eine eigene Erwerbsunfähigkeit angemessen vorzusorgen. Etwaiges, ab Januar 1996 erzieltes Einkommen, das über den Betrag hinausgeht, der zur Finanzierung des eigenen angemessenen Unterhalts erforderlich ist, benötigt der Kl. deshalb dringend, um die in der Vergangenheit entstandenen eigenen finanziellen Lücken nachträglich zu schließen.

e) Wägt man die Belange der Parteien gegeneinander ab, so erscheint eine zeitlich unbefristete Inanspruchnahme des Kl. als für diesen objektiv unzumutbar und als dem Gerechtigkeitsempfinden in unerträglicher Weise zuwiderlaufend. Billigkeitsgesichtspunkte gebieten im vorliegenden Fall vielmehr eine zeitliche Befristung des Unterhaltsanspruchs (vgl. BGH, NJW-RR 1989, 1218 = FamRZ 1989, 1054 (1057); NJW 1994, 1286 = FamRZ 1994, 566; NJW-RR 1995, 449 = FamRZ 1995, 1405ff.; OLG Oldenburg, FamRZ 1991, 827f.; OLG Hamburg, FamRZ 1995, 1417f.; OLG Brandenburg, FamRZ 1996, 866f.).

f) Bis zur Zustellung des Scheidungsantrags im Juli 1985 hatte die im Juli 1975 geschlossene Ehe der Parteien rund zehn Jahre lang gedauert. Deshalb erscheint es billig und geboten, die nacheheliche Unterhaltsverpflichtung ebenfalls auf einen Zeitraum von etwa zehn Jahren zu begrenzen, so dass sie im zweiten Halbjahr 1995 – spätestens am 31. 12. 1995 – endet. Der Senat berücksichtigt hierbei bewusst nicht den Zeitraum von der Heirat bis zur Rechtskraft der Ehescheidung, sondern nur denjenigen bis zur Zustellung des Scheidungsantrags. Denn nur in dieser Zeit haben Ehegatten regelmäßig ihre Lebensführung aufeinander eingestellt und sie in wechselseitiger Abhängigkeit auf ein gemeinsames Lebensziel ausgerichtet. Mit der Zustellung des Scheidungsantrags kann hiervon nicht mehr ausgegangen werden, vielmehr drückt sich hierin eine Abkehr von der gemeinsamen Lebensplanung und ein Ende der gemeinschaftlichen Lebensgestaltung aus.

Der Zeitraum bis zur Rechtskraft der Ehescheidung eignet sich auch deshalb nicht als Maßstab, weil die Dauer des Scheidungsverfahrens von Zufälligkeiten abhängig ist, die im Hinblick auf die Frage der nachehelichen Unterhaltsverpflichtung und der zeitlichen Befristung derselben nicht ausschlaggebend sein können. Dementsprechend knüpft das Gesetz auch andere, für die Abwicklung der ehelichen Beziehungen maßgebliche Zeitpunkte an den Zeitpunkt der Zustellung des Scheidungsantrags: So im Zugewinnausgleich den Zeitpunkt für die Berechnung des Endvermögens (§ 1384 BGB) und im Versorgungsausgleich das Ehezeitende (§ 1587 II BGB); auch ist unter Ehedauer i.S. von § 1579 Nr. 1 BGB nach gefestigter Rechtsprechung die Zeit bis zur Rechtshängigkeit des Scheidungsantrags zu verstehen (BGH, NJW 1981, 754 = FamRZ 1981, 140 (141)).

3. Ein an sich für die Zeit vom 1. 3. 1995 bis (längstens) Jahresende 1995 grundsätzlich bestehender Unterhaltsanspruch der Bekl. scheitert an einer mangelnden Leistungsfähigkeit des Kl.

a) Die Leistungsfähigkeit beurteilt sich nach den dem Kl. im Jahr 1995 tatsächlich zugeflossenen und nicht nach etwaigen ihm fiktiv zuzurechnenden Einkünften. Ausgangspunkt für diese Beurteilung ist der vom BGH in ständiger Rechtsprechung festgehaltene Grundsatz, dass die – sogar selbst und schuldhaft herbeigeführte – Leistungsunfähigkeit eines Unterhaltsschuldners grundsätzlich Beachtung verdient, wenn nicht im Einzelfall schwerwiegende Gründe vorliegen, die dem Unterhaltsverpflichteten nach Treu und Glauben die Berufung auf seine Leistungsunfähigkeit verwehren; nur in diesem Rahmen kann den Unterhaltsschuldner der Vorwurf eines unterhaltsrechtlich leichtfertigen, verantwortungslosen Verhaltens treffen (BGH, NJW 1985, 732 = FamRZ 1985, 158 (159); NJW-RR 1987, 770 = FamRZ 1987, 372 (374)).

Von einem solcherart zu qualifizierenden Verhalten kann vorliegend aber nicht ausgegangen werden. Das bei der Firma F bestehende Arbeitsverhältnis wurde durch Arbeitgeberkündigung aus betriebsbedingten Gründen beendet, und allein in der Tatsache, dass der Kl. dieser Kündigung nicht entgegengetreten ist, kann kein leichtfertiges, verantwortungsloses Verhalten gesehen werden (BGH, NJW-RR 1993, 1282 = FamRZ 1994, 372 (374)).

Fiktive Einkünfte sind dem Kl. auch nicht deshalb anzurechnen, weil er sich nicht ausreichend bemüht hat, nach Verlust seines Arbeitsplatzes eine neue Arbeitsstelle zu finden. Zwar müssen die entsprechenden Bemühungen des Kl. als unzureichend angesehen werden, nachdem er die Arbeitsplatzsuche im wesentlichen auf häufige Anfragen beim Arbeitsamt beschränkt und kaum eigene Initiative zur Arbeitsplatzsuche entwickelt hat (vgl. Senat, FamRZ 1995, 615 (617f.) m.w. Nachw.). Aufgrund der schriftlichen Aussage des Zeugen Z steht jedoch zur Überzeugung des Senats fest, dass der Kl. ohnehin keine reale Beschäftigungschance hatte, so dass die Anrechnung eines fiktiv erzielbaren Einkommens ausscheidet (vgl. BGH, NJW-RR 1987, 962 = FamRZ 1987, 912f.).

b) Dem Kl. ist in der Zeit vom 1. 1. bis 28. 2. 1995 Arbeitslosenhilfe in Höhe von 2920 DM gezahlt worden. Im Zeitraum März bis August 1995 hat er Überbrückungsgeld gem. § 55a AFG in Höhe von (gerundet) 9110 DM bezogen. Da dieses Einkommensersatzfunktion für den Zeitraum des Einstiegs in die selbständige Tätigkeit hatte, stellt es anrechenbares Einkommen im Sinne des Unterhaltsrechts dar. Daneben sind dem Kl. Einkünfte aus selbständiger Tätigkeit zugeflossen: Nach der vom Kl. für 1995 vorgelegten Gewinnermittlung erzielten er und seine zweite Ehefrau, die Zeugin E, im Jahr 1995 zusammen einen Gewinn von brutto 11346 DM. Bei hälftiger Aufteilung des Gewinns auf die Eheleute entfällt auf den Kl. ein Betrag von 5673 DM. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass dem Kl. mehr als die Hälfte des Gewinns zusteht. Zum einen hat die Zeugin die vom Kl. behauptete Abrede der hälftigen Aufteilung der Gewinne aufgrund beiderseitiger Mitarbeit bestätigt; zum anderen ist zu berücksichtigen, dass die Zeugin das Gewerbe in den ersten zwei Monaten des Jahres 1995 noch allein geführt hat, ihr somit eher mehr als 50 % des Gewinns als weniger zustehen dürfte.

Die Einkünfte des Kl. im Jahr 1995 beliefen sich damit auf insgesamt 17703 DM, das sind monatsdurchschnittlich 1475 DM. Mit diesem Einkommen liegt der Kl. unter dem notwendigen Selbstbehalt von 1500 DM nach der Düsseldorfer Tabelle (Stand 1. 1. 1996, Beil. zu NJW H. 4/1996, S. 5 = FamRZ 1995, 1323ff.), so dass er zur Zahlung von Unterhalt im Jahr 1995 nicht verpflichtet ist. Das gilt auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass der vom Kl. und seiner zweiten Ehefrau im Jahr 1995 erzielte Gewinn möglicherweise um in der Gewinnermittlung enthaltene Abschreibungsbeträge – die unterhaltsrechtlich nicht voll anzuerkennen wären – aufzustocken ist. Denn von den Einkünften sind andererseits Beträge für Krankenvorsorge und Altersvorsorge in Abzug zu bringen, die dieses neutralisieren.

Rechtsgebiete

Unterhaltsrecht